September

08

2007

Kultur-Tour in Ratingen – Ein Spiegel (schräger)vermittelter Werte der aktuellen Bildungspolitik? – Von Gisela B. Laux


Im Parkhaus aufgenommen

Oh, ich hatte mich sehr auf dieses Event gefreut. Ratinger Jugendliche organisierten im Jugendkulturjahr 2007 mit der Unterstützung des Kulturamtes, des Jugendamtes und der Rheinbahn die „Literatour zu fünf schrägen Orten in Ratingen.“

Warum „schräge Orte“? Klingt eigentlich ganz locker, ein üblicher Generatiolekt ( hier: Jugendsprache), der Ausdruck „schräg“.

Es war eine Busrundfahrt, bei der zunächst alles nach Plan lief. Ein Grußwort der stellvertretenden Bürgermeisterin (der Bürgermeister selbst hatte keine Zeit. Das drückte seine Vertreterin, die das gewohnt ist, sehr viel „netter“ aus.), die sich offensichtlich auf die Veranstaltung aufrichtig freute. Ein dickes Lob an den Vertreter der Rheinbahn, Dank an die Leiterin des Kulturamtes, Grußwort eines Mädchens aus dem Jugendbeirat. Biogetränke wurde ausgegeben, in fetzigem Alco-Pop-Design, „mit-ohne-Alkohol“. Brave Kids!

Erste Station war ein offenes Feld in Homberg, von einem freundlichen Bauern zur Verfügung gestellt.

Ein Schüler rezitiert professionell seinen selbst verfassten Text. Hinter ihm der Horizont. Er sitzt auf einem Camping-Klappstuhl, neben ihm eine sommerliche Fackel. Bänke für die ZuhörerInnen. Die Stimmung ist angenehm. Heiter.

Man steigt in den Bus und wird zum nächsten „schrägen Ort“ gefahren. Zu einer Tiefgarage.
Ja, das ist ein schräger Ort für eine Lesung. Vor dem ebenfalls sehr beeindruckenden Autor, der kritische und sehr unterhaltsame, ebenfalls selbst verfasste Texte mit einer ansteckenden Lässigkeit vorträgt: Eine riesige Pfütze, in der sich die ZuhörerInnen spiegeln. Es ist nicht wirklich gemütlich. Dunkel, es schallt, und es ist feucht. Ohne die Darbietung wollte man hier keine fünf Minuten freiwillig stehen. Verdienter Applaus. Eine Geste des Dankes. Nun vermischt sich Lässigkeit ein wenig mit Verlegenheit. Wenn es gespielt war, war auch das sehr charmant und professionell. Wer weiß schon, was aus diesem Talent wird? Vielleicht ein erfolgreicher Autor? Ein Schauspieler?

Zurück in den Bus. Die hübsche Jung-Organisatorin moderiert die nächste Stadion an: Ratingen West. Papageienhaus. Ein schräger Ort?

Eine kurze Charakteristik von Ratingen West, wie ich es sehe:

Ein Stadtteil mit vielen Hochhäusern. Vordergründige Effizienz: Viele Mensche, gedrängt auf wenig Platz. Inmitten der Hochhäuser: Ein Einkaufszentrum, Schulen, ein Ärztehaus. Praktisch muss man Ratingen West nicht verlassen. Es ist Alles da, was man braucht, sogar Bäume und ein Brunnen. Regelmäßig finden dort Wochen und Flohmärkte statt. Und die Zelt-Zeit. Ein jährliches, kulturelles Ereignis, in dem sich Kabarettisten die Klinke geben. Bislang bin ich dort noch nicht aufgetreten. Aber, was nicht ist…. Dafür aber Schüler einer nahegelegenen Schule. Auch außerhalb der Zeltzeit, in der auch Prommis wie Dieter Nuhr auftreten, findet dort beachtliche Kultur statt. Fast möchte ich sagen: Ratingen West ist ein kultureller Geheimtipp.

Ein Ort, in dem es Alles gibt, was man braucht? Den man praktisch nicht verlassen muss? Wo gibt es dann denn? Wer will das denn?
Ratingen West könnte ein Stadtteil sein, der in einem Sozialkundebuch - exemplarisch für „soziale Brennpunkte“ – herhalten könnte, mit folgenden Klischées, die immer weiter tradiert werden:

„Trabantenstadt“, „extrem hohe Arbeitslosigkeit, da keine oder schlechte (Aus-)Bildung“, „Frustration, fehlkompensiert durch diverse Süchte, Gewalt, Kriminalität“ und zu schlechter Letzt, in einem abfälligen Unterton „hoher Ausländeranteil“. Das Letzte: „Ghetto!“

Ein schräger Ort?

Wir werden zum sogenannten Papageienhaus gelotst. Ein Hochhausgebäude mit buntem Anstrich, aber auch düsterer Geschichte: Hier fanden Suizide statt. Menschen stürzten sich in den „Freitod“. So gewinnt der Name „Papageienhaus“ einen zynischen Beigeschmack. Zumal man Papageien die Flügel stutzt und sie in Käfige sperrt.

Die Bedrückung beim Heraufsteigen des engen Treppenhauses lässt nicht nach. Ziel: Ein Balkon einer 2-Zimmerwohnung im 5. Stock.

Bekritzelte Wände, eine sorgfältig verknotete Mülltüte, vertrockneter dunkle Rinnsaal in einer Ecke, der irgendwann in Kopfhöhe halt macht. Keine Pflanze, keine bunte Farbe. Hier kann man Angst bekommen. Als Fremder und als Bewohner erst recht. Denn wir sind nur für kurze Zeit hier, an diesem „schrägen Ort“. Die Bewohner leben hier.

Einige SchülerInnen scheinen dies zu verdrängen. Machen fiese Witze. Das ist noch bedrückender. Denn die Schüler sind durchaus intellektuell in der Lage, zu reflektieren, unter welchen Bedingungen Menschen hier leben. Ein Leben, das sich in seinen Grundfesten von den elterlichen Wohnungen der SchülerInnen, die hier gleichsam wie „Elend-Touristen“ durch das Haus gehen, sicher stark unterscheidet.

Wir bleiben auf einem Flur stecken, stauen uns. Ich bin ganz hintern und weiß nicht, warum es nicht weiter geht. Ein Schüler bemerkt in dem Ton eines betagten Menschen, der in seinem langen Leben nichts anderes als Ästhetik und Ordnung wahrgenommen hat, dass es hier „ja nicht so dreckig wäre, wie im Treppenaufgang“. Nicht so dreckig, wie er es „geglaubt“ hätte.

Glauben heißt Nicht-Wissen?

Das soll doch ein echt „schräger Ort“ sein!

Auf jeden Fall reagiert der Junge empört, als ich ihm sagen, dass er hier in einem Haus sei, in dem Menschen leben würden. Dies gälte es zu respektieren.“ Darauf empörte er sich, er sei doch nicht „arrogant“. Im engsten Wortsinne hatte er das aber soeben bewiesen. Hier helfen banale Lateinkenntnisse oder ein simples Wörterbuch. Wie un-schräg, da ‚mal hineinzuschauen!

Aufgewühlt durch die respektlose Stimmung der Schüler (Lautes Lachen auf dem Flur, abfällige Bemerkungen über die Bewohner und deren Situation) „Wir gehen ‚mal die Treppen ‚rauf. Einmal muss man das erlebt haben. (Lachen)“ bitte ich die stellvertretende Bürgermeisterin , die ganz hinten, am Ende der Schlange, steht zur Seite und bitte Sie, ein paar kurze Worte an die Schüler zu richten.

Zwar zeigt sie sich betroffen, unternimmt aber nichts, auch nicht nachdem ich hier später ein weiteres, in dem Fall wirkliches grausiges Zitat einer Schülerin brachte.

Wir stauten uns im 5. Stock des „Papageienhauses“ deshalb, weil wir die gebuchte 2-Zimmer-Wohnung nicht betreten konnten. Die Leiterin des Kulturamtes rief: „Wer hat denn hier den Schlüssel?“
Es stellte sich heraus, dass eine Familie (in der Wohnung befand sich das Ehepaar, im Gang kamen uns die zwei kleinen Töchter, uns freundlich lächelnd entgegen und wurden von der Masse der Schüler quasi zur Seite gedrängt. Ist das OK, weil es Kinder sind, die an einem „schrägen Ort“ leben? Muss man die übersehen?) gerade im Begriff war, die Wohnung zu beziehen.

Die Masse bewegte sich ein zweites Mal durch den Treppenaufgang, nun abwärts, nach draußen. Einige Texte werden auf einer Treppe vorgelesen. Akustisch unterbrochen von Flugzeuglärm. Einige Bewohner passieren die Szenerie. Texte über die hohen Außenwände der Hochhäuser, die dünnen Innenwände, durch die Weinen, aber auch Lachen durchdringe. Sozialromantik!

Kurze Aufklärung der Jung-Organisatorin. Unter Lächeln meinte sie über das Ehepaar: „Die haben vielleicht geguckt!“ „Verständlicherweise!“, warf ich ein. Kaum wahrzunehmen stimmte mir die Bürgermeisterin zu.

Trauriger Höhepunkt der deplatzierten Kommentare: Ein Mädchen bemerkt lachend bei der Rückkehr zum Bus: „Ich hatte Angst, da fällt Einer vom Hochhaus herunter!“

An dieser Stelle unterbreche ich meinen Bericht und komme zu meiner Frage:

Warum hat man im Bus (dort war ein Mikrophon) nicht ein, zwei Sätze zu der völligen Unsensibilität einiger Schüler gesagt, um diese zum Nachdenken anzuregen?

Man (darunter ein leitender Mitarbeiter des Jugendamtes und die Leiterin des Kulturamtes) sagte mir, das störe die Veranstaltung.

Man hätte dies ohne Drama gut integrieren können!

Noch ein Wort: An einem Ort wie Ratingen West zeigt sich, ob man Zusammenhänge verstanden und verinnerlicht hat. So helle Köpfe, wie die meisten dieser Schüler wären dazu „locker“ in der Lage. Ganz „easy“.

Wenn Sie beanspruchen, dass man ihre Bildung, Intelligenz und Eigenständigkeit wahrnimmt, dann sollten sie diese gerade an einem Ort wie Ratingen West unter Beweis stellen.

Ohne Zynismus, Larmoyanz und Sozialromantik. Denn das hatte gestern Ratingen West erst zu einem „schrägen Ort“ gemacht!

Gisela B. Laux

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