Public Viewing – Deutschland im EM-Rausch – Gute Zeiten in schlechten Zeiten?

Kurz vor Ende des Fußballspieles Deutschland – Türkei plagte mich der Hunger so sehr, dass ich „zum Italiener“ ging, um mir einen Nizza Salat abzuholen. Vorher ging ich zur die Bank. Es war schwül und später Abend, die meisten Fenster in der Innenstadt geöffnet. Die Stimme des Kommentators des Spieles drang aus allen Wohnzimmern. So ging es weiter:

Plötzlich lässt mich eine ungeheure Woge von Geschrei schier erstarren. Ich bleibe stehen, greife mit meiner Hand in die Magengrube. Ein ungeheurer Schreck. Ich blicke nach oben zu einem der Fenster. Ein Mann sieht mich, während er jubelt, geht mit einem Schritt zum Fenster und brüllt mir „TOOOOOOR“ entgegen, so laut er kann. Der Lärm aus den Ratinger Wohnzimmern potenziert sich in Bruchteilen von hunderstel Sekunden mit dem Lärm des Public Viewings des Arkadenhofs und des Marktplatzes zu einem Tsunami an Hysterie.

Ratingen schreit.

Deutschland schreit.

Wir sind am selben Schauplatz: In Deutschland. Im Jahr 2006. Auch in diesem Land findet eine Meisterschaft statt. Sie wird von dem Ratinger Produzenten und Regisseur Söhnke Wortmann begleitet und wird später ein Kinohit: Der Titel trifft den Nerv eines Volkes: „Deutschland – Ein Sommermärchen“.

In diesem Film gibt es eine Szene, in der Frau Merkel der WM Mannschaft begegnet. „Unsere Jungs“ sitzen wie Schulbuben aufgereiht in Stühlen. Ganz hinten sitzt Jens Lehmann, der Torhüter und fragt, welchen Anreiz man ihm geben könne, wieder nach Deutschland zu ziehen. Die Frage wird als lustiger Beitrag aufgenommen, zeigt Herr Lehmann damit eine gewisse Spitzbübischkeit, gewürzt mit einem Untertanenton: Frau Merkel spielt die verlegene, süße, Kesse und antwortet, man habe gerade das Elterngeld von 800 Euro eingeführt, aber das sei ja sicher nicht von Relevanz für ihn.

Das offizielle Jahresgehalt der Bundeskanzlerin beträgt 231.000 Euro pro Jahr. Letztendlich wird es summa summarum wesentlich höher sein. Ein Fußballer ist ein mehrfacher Millionär. Der kann über 800 Euro Elterngeld nur lachen. Ja.

Fußball ist nicht nur nur Sport, sondern auch Politik. Besonders, je gerade eben für die Politikverdrossenen. Da ist der „Erzfeind“ Österreich zu besiegen („Der Erzfeind“ sprach das Wort selbst in einer Pressekonferenz aus und meinte „den Deutschen“ damit). Aber hier sind alle Gegner. Die Fußballsprache ist traditionell gespickt mit Militärjargon. Allen voran der „Stürmer“. Die Sprache der Reporter heizt ein.

Als die deutsche und die türkische Fußballmannschaft gegeneinander antreten sollten, gab es eine hohe Sicherheitsstufe in Deutschland. Man war auf Krawall vorbereitet. Sehr zu Recht.
In Deutschland leben circa 2 Millionen Türken und diese haben unter den Deutschen beileibe nicht nur Freunde. Wir erinnern uns an Solingen, Mölln und Rostock…

Der Jubel alleine in der Kleinstadt Ratingen (ca. 90 tausend Einwohner), in Menschen von über 30 Nationen leben, ist unheimlich.

Ich lasse mich gerne von einem herzlichen, losgelösten Lachen anstecken, kann mich dem nicht entziehen. Es macht mich froh. Aber diese Hysterie hier macht mir Angst. Was wäre gewesen, wenn die türkische Mannschaft gewonnen hätte? Statt dieser Hysterie, diesem fordernden Ruf „Deeeeeuuutschland, jaaaa, Tooor!“, was wäre stattdessen in unserem Land los gewesen? Denn auch so haben Nazis türkische Restaurants nach dem gewonnenen Spiel verwüstet. Diese unverbesserlichen, absolut überflüssigen Idioten. Und Verbrecher.

Mich beschäftigt eine weitere Frage: Parallel zur WM 2006 wurde die neue Gesundheitsreform ausgerufen, die jetzt wieder verschärft wurde. Und es juckte Niemanden. Das Opium des Volkes, der Fußball ist es nun, betäubt, so scheint es, Alles: Jede Empörung und erst Recht jeden Drang zum Widerstand.

Es ist nach wie vor „Deutsch“, Angst zu haben: Vor Kündigung, vor sozialem Abstieg, vorm Weg-vom-Fenster-sein. – Ich erinnere mich gerade wieder an die offenen Fenster bei der Spielübertragung – .Ja, es ist „Deutsch“ den Mund zu halten und bei Missstand zu konstatieren: „Da kann man sowieso nichts machen“.

Es wird nicht gegen die Armut demonstriert. Nicht gegen die Reformen, die immer Armut hier und immer mehr Reichtum dort zur Folge haben. Nicht gegen Preiserhöhung. Nicht gegen den Wiedereinstieg der Atomkraft. Da schweigt Deutschland.
Da schweigen die Deutschen. Maul halten. Ruhe haben.

Angeblich ist es nicht organisierbar, Menschen zum Demonstrieren gegen Missstände auf die Straßen zu bekommen. Und die, die es versucht haben, besten Willens, sind auch gescheitert.

Aber, allen Gewohnheiten zum Trotz – denn „der Deutsche an sich“ mäkelt lieber am Stammtisch, als auf die Straße zu gehen oder dort und woanders offen seine Meinung zu äußern, kann er es, sobald er das Schild

PUBLIC VIEWING

sieht. Da geht er, begleitet von Massen zu einem Punkt. Und schreit, dass die Erde bebt. Da ist er nicht böse über den englischen Begriff „public viewing“, wo er sonst so für die „Reinerhaltung der deutschen Sprache, frei von Anglismen“ ist.

PUBLIC VIEWING ist das Signal zur Mobilität. Da werden Fahnen geschwenkt, da wird geschriehen und geweint, gejubelt und umarmt, Freibier getrunken, für’n Euro ein Würstchen gegessen und geprügelt.

Liebe Mitbürger/Innen dieses Landes: Was muss auf einem Schild stehen, damit Ihr gegen die Missstände unseres Landes aufsteht? Braucht Ihr denn allen Ernstes ein Schild mit einer Aufforderung? Oder Freibier?

Gisela B. Laux

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